Geschichte hautnah ...

... oder wenn Geschichte unter die Haut geht

Im Singsaal unseres Schulhauses lasen die beiden Konstanzer Edith und Bernd Heuer aus dem Tagebuch ihres Vaters. Dieses beinhaltet Schilderungen aus der Zeit der Hitlerjugend bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

Werner Lenzin

«Verantwortung für die Zukunft erwächst nur, wenn man die Vergangenheit kennt», sagt die pensionierte Ärztin Edith Heuer aus Konstanz. In einem Schreibtisch versteckt fand ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters dessen Tagebücher, eingewickelt in eine blaue Plastiktüte. Die Mutter wusste nichts davon und übergab ihr die meist mit Bleistift und in der Sütterlinschrift niedergeschriebenen Aufzeichnungen ihres Vaters Erich Dürr. Dieser hat zwischen dem 19. und 30. Lebensjahr beinahe täglich sein Leben und das Erlebte im Dritten Reich, beginnend mit den Erlebnissen bei der Hitlerjungend, die harte Ausbildung mit militärischem Drill im Reichsarbeitsdienst bis zum Frankreichfeldzug 1940 und der unbarmherzigen Gewalt beim Rückzug von der Ostfront aufgezeichnet. Beim Durchlesen und Niederschreiben der Notizen lernte die Tochter die ganz andere Seite ihres Vaters kennen. Aus dem Tagebuch entstand in der Folge ein 494-seitiges Werk mit dem Titel «Im Vertrauen auf Gott und den Führer».

Beeindruckte Sekundarschüler

Dank dem Hinweis eines Kollegen hat Sekundarlehrer Reinhard Schmocker den besonderen Anlass im Rahmen des Geschichtsunterrichts ermöglicht. Gespannt und sichtlich bewegt folgen die 50 Schülerinnen und Schüler den Ausführungen Edith Heuers. Die Tagebucheinträge ihres Vaters beginnen an Weihnachten 1934 und der letzte Eintrag ist datiert vom 15. Juli 1945, dem Tag an dem Erich Dürr nach seiner Flucht aus dem Gefangenenlager Gorleben zuhause in Württemberg ankam. «Der Grund, weshalb mein Vater als 19-jähriger mit dem Schreiben eines Tagebuches begann war, dass er sich in meine Mutter verliebt hatte», begann Edith Heuer ihre Ausführungen. Ihre Kommentare und Erläuterungen wurden von Original-Auszügen aus den Tagebüchern, vorgelesen von ihrem Mann ergänzt. Bewegende und zu Herzen gehende Worte schrieb Erich Dürr, wenn es um seine geliebte Frau ging, irritierende Gedanken brachte er zu Papier, wenn er die Zeit der Hitlerjugend und die harte Ausbildung mit militärischem Drill in Reichsdienst oder die Teilnahme am Reichstag schildert, als er in die «verantwortungsvollen Augen» des Führers blickte. «Mein Vater war kein Mitglied der NSDAP und das Jahrzehnt, das mein Vater in seinen Tagebüchern festgehalten hat, zeigt ihn als verlässlichen, tapferen Soldaten und als Rädchen einer gigantischen Nazimaschinerie, die an ihrem Ende 50 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet hat», schloss Edith Heuer ihre Ausführungen. Mahnend betonte sie an die Adresse der jugendlichen Zuhörer: «Die jüngsten politischen Entwicklungen in Europa und leider auch bei uns in Deutschland geben Anlass, besonders wachsam zu sein und genau zu prüfen, wem man mit seiner Stimme Macht verleiht».

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