Ein Wettbewerb der anderen Art
Lina Keller belegt den dritten Rang
Die Deutschklasse 2E von Frau E. Schumacher hat am Literaturwettbewerb der Bibliothek Amriswil teilgenommen.
Aus vorgegebenen Schlagzeilen musste ein dazu passender Text verfasst werden. Mit grossem Einsatz und voller Motivation entstanden fantasievolle Geschichten.
Die Jury hat aus 210 Wettbewerbsteilnehmenden auch eine Geschichte aus unserer Schule prämiert. Lina Keller machte den 3. Platz und gewann 50 Franken.
Herzliche Gratulation!
Probewohnen beim Schellenursli
Der Schellenursli trat, nachdem er die Arbeit im Stall verrichtet hatte, aus dem Stall, um den schönen Sonnenuntergang zu betrachten. Von der Schönheit der Natur ergriffen, betrachtete er ganz in Gedanken versunken den Sonnenuntergang.
Mit einem Male erwachte er aus seinen Träumereien, nämlich als er eine kleine Gestalt den Berg hinauf keuchen sah. Interessiert betrachtete er den Menschen, der ihm oder irgendwem aus seiner Umgebung einen Besuch abstatten würde. Die immer grösser werdende Person hatte braune, lange Haare. Als dem Schellenursli kurz darauf ein fröhliches, aber müdes Mädchengesicht entgegen lachte, fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Heidi höchstpersönlich stand vor ihm!
«Was führt denn dich zu mir?», stotterte der Schellenursli verwirrt. Heidi erklärte ihm, dass sie von den Ziegen des Alp-Öhis fortgelaufen sei. Das Klingen der Glöckchen, welche die Ziegen um den Hals tragen, sei ihr – wortwörtlich – auf den Wecker gegangen. Jeden Morgen sei Heidi von dem Geklimper der Ziegenglocken aus dem Schlaf gerissen worden. Sie halte das ständige, nervige Klingen nicht mehr aus. Darum habe sie sich nun auf den Weg gemacht, um sich ein bisschen davon zu erholen.
Sie erzählte weiter, dass sie schon viele Leute besucht habe und eben von den Minions komme. Heidi sei schon lange Zeit unterwegs und habe ziemliches Heimweh nach dem Geissenpeter und dem Grossvater. Sie habe die Hoffnung nach einer für sie akzeptablen Wohnsituation noch nicht aufgegeben und fragte ihn, ob er ihr eine Chance zum Probewohnen bei ihm geben würde. Freudig stimmte er zu.
Während die beiden den letzten Sonnenstrahlen, die hinter den Bergen verschwanden, zuschauten, fiel Heidi auf, dass der Schellenursli rote, verweinte Augen hatte. «Was hast du denn für ein Problem?», wollte sie wissen. Niedergeschlagen murmelte der Schellenursli etwas von einem Chalandamarz und einer kleinen Schelle. Verständnislos fragte Heidi, was das sei und der Schellenursli erklärte ihr: «Der Chalandamarz ist ein Fest bei uns im Bündnerland, um den Winter zu vertreiben. Die Kinder laufen mit Kuhglocken um den Hals von Haus zu Haus. Jeder möchte möglichst die grösste Glocke haben. Ach Heidi, es nervt mich unglaublich, dass ich bis heute nur eine kleine Schelle habe. Bestimmt werde ich morgen am Chalandamarz deswegen ausgelacht!»
Verständnisvoll meinte Heidi: «Wir finden schon eine Lösung!» Ihr fiel ein, dass sie von einer Hütte weiter oben am Berg wusste, in welcher die grösste Glocke hing, die der Schellenursli je zu Gesicht bekommen würde. «Besorge dir doch diese Glocke. Ich werde dich per WhatsApp lotsen, damit du die Hütte bestimmt findest.»
Obwohl der Schellenursli nicht restlos überzeugt von Heidis Plan war, machte er sich schliesslich doch spätabends auf den Weg. Mit der besten Taschenlampe, die er auftreiben konnte, sprintete er in seinen Turnschuhen den Berg hinauf. Die Dunkelheit umhüllte ihn, aber die Hoffnung, bald auf eine grosse Glocke zu treffen, spornte ihn an. Schon nach kurzer Zeit war er froh, dass er Heidi hatte, die ihm bei Fragen und Unsicherheiten über WhatsApp den Weg erklärte. Mit jedem Schritt kam der Schellenursli seinem Ziel einen Schritt näher.
Da es schon mitten in der Nacht war und sich Heidi zum Umfallen müde fühlte, suchte sie sich im Haus des Schellenurslis einen Schlafplatz. In einer kleinen Kammer fand sie ein schönes, leeres, weiches Bett und beschloss, ihre Nacht dort zu verbringen.
Zur gleichen Zeit stand der Schellenursli vor der verriegelten Tür der Hütte; das Einzige, was ihn noch vom Grund dieser Nachtwanderung trennte. Nach vielen Versuchen, die Tür zu öffnen, gelang es ihm endlich. Beim Eintreten blieb er einen Moment sprachlos im Türrahmen stehen. Vor ihm glänzte eine Glocke, die so gross und so schön war, wie er sie sich in den kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Mit einem Jauchzer stürzte er sich auf sie.
Zufrieden schlüpfte Heidi kurze Zeit später in das himmlisch weiche Bett und wäre wohl auf der Stelle eingeschlafen, wenn nicht ihr Handy verriet, dass eine Nachricht vom Schellenursli eingetroffen war. Er schrieb, er sei am Ziel angekommen. Es habe tatsächlich geklappt!
Stunden später rieb sich Heidi verschlafen die Augen. «Woher kommt denn dieser Lärm und das laute Getöse, das mich geweckt hat?» In ihrem Bett konnte sie sich letzte Nacht wunderbar erholen, doch bei dem Krach, der draussen produziert wurde, war es unmöglich, länger zu schlafen. Sie verdrehte ihre Augen. Dieser Lärm war ja nicht zum Aushalten!
Neugierig wie sie war, wollte sie einen Blick nach draussen werfen, schlüpfte aus der warmen Bettdecke und öffnete das kleine Fenster, das einen schönen Ausblick auf eine grosse Schar von Menschen freigab. Das musste der Chalandamarz-Umzug sein! Inmitten der Schar von Kindern, die Glocken um den Hals trugen, versuchte Heidi, den Schellenursli ausfindig zu machen. Doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken! Obwohl diese lauten Glocken für Heidis Ohren zu viel waren, ging sie nach draussen, um ihn zu suchen.
Sie öffnete die grosse, schwere Eingangstür des Hauses. In dem Moment, als sie ins Freie trat, wurde es auf einmal totenstill. Die Menschen auf der Strasse hielten einen Moment inne, verunsichert über den tiefen, lauten Ton. Alle fragten sich, was das sei. Heidi genoss die Ruhe. Da bog der Schellenursli schnaufend um die Ecke. Um den Hals trug er die grosse, schöne Glocke. Er kam gerade noch rechtzeitig zum Umzug! Er winkte Heidi lachend zu und stellte sich an die Spitze des Zuges, der glockenschwingend von Haus zu Haus weiterwanderte. Heidi zog sich in das Haus zurück. Dieser Lärm war einfach zu viel für ihre Ohren.
«Bin ich eigentlich im falschen Film?», fragte sie sich. «Ich suchte die Ruhe vor den Ziegenglocken und fand hier noch lautere Kuhglocken!» Sie beschloss, dass sie, auch wenn es ihr beim Schellenursli gefiel, nach einer anderen Bleibe suchen wollte. «Vielleicht teste ich es noch mit einer Probewohnzeit bei Roger Federer», dachte sie, winkte dem Schellenursli zum Abschied zu und flitzte den Berg hinunter.